Warum dieses Material?
In einem kleinen, braunen Lederkoffer lagen Fotos, Pässe, Soldbücher, Postkarten, Urkunden und Schulhefte - Dokumente und sogar ganze Fotoalben aus dem Nachlass meiner Schwiegerfamilie - Zeitschnipsel aus beiden Weltkriegen.
Die Familie hat kein Interesse an den Papieren, sie werden in meiner Obhut bleiben. Nur, ich erkenne die Personen auf den Fotos nicht. Wer ist der alter Mann, das Mädchen mit den Zöpfen, wer sind die Soldaten mit Bierkrügen um den großen Tisch? Was machen mit den Postkarten aus Minsk, die Landschaftsaufnahmen von grauen, verschneiten Landschaften in Flandern?
Vielleicht kann ich sie in ein Kunstprojekt einbringen. Ich weiß noch nicht wie. Zunächst sortiere ich, wähle dies und jenes aus. Ohne Rücksicht auf Chronologie oder Herkunft fange ich an, sie neu zu ordnen.
Ohne festen Plan fange ich an, das Material zu bearbeiten, mal abstrakt, mit Schwerpunkt auf Farbe und Material, mal alternativ ohne viel am Original zu verändern. Besonders begeistert bin ich
von den Möglichkeiten, die Schwarz- Grau- und Weißtönen herauszuarbeiten. Mit Tusche und Acrylfarbe verfremde ich einen Teil der Fotos und setze sie zusammen in Leporellos oder Bildserien.
Manchmal ist der alte Inhalt sichtbar, aber die Geschichten lassen sich nicht verfolgen. Nur bei den Fotos der Soldaten bleibt der Zusammenhang erhalten.
Ich nehme Garn, um Umrisse zu zeichnen und neue Schwerpunkte zu setzten.
Die Spulen haben sich mit der Zeit verfärbt und sind jetzt wunderbar changierend - elfenbein-, cremefarben, und auch das Reinweiß durch Rostflecken und Staubschmutz patiniert. Ich wähle zwischen Seide, Leinen oder mercerisierter Baumwollgarn von sichtbar feinster Qualität aus einem Fundus, der von meiner französischen Großmutter stammt. Zufällig werden durch dieses Projekt die Geschichten zweier Familien aus Ländern, die sich ehemals einander feindlich gegenüberstanden, miteinander verwoben.